
“Es kommt, wie es kommen mag.” Eine Weihnachtsgeschichte von mir
Es war noch frisch und recht dunkel im Zimmer. Nur das Licht der in die Jahre gekommenen Stehlampe aus schwerem, rosafarbenen Samt war zu sehen, draußen wollte es heute Morgen nicht so recht hell werden. Winter. Langsam schob Anna ihre schmale Hand zu dem Foto ganz rechts außen, das auf ihrer Kommode stand. Mit zittrigen Fingern hob sie es auf und schaute es lange Zeit an. Wo war nur die Zeit geblieben? Sie konnte es nicht begreifen. Ihre Augen wurden glasig, ihr Zeigefinger strich sanft über die Gesichter auf der bereits unter Glas vergilbten Fotografie. Wie alt war dieses Bild jetzt? Sie strengte sich an und rechnete nach. Johannes war damals noch so klein gewesen, vielleicht 9 oder 10 Jahre alt. Das zeigte Bild zeigte ihn und seinen Vater Ferdinand auf der vom Großvater handgemachten Holzrodel. Damals war auch Winter gewesen, ein eisig kalter, mit viel Schnee, nicht so einer, wie es jetzt war. So glücklich waren sie damals alle gewesen. Sie konnte das Lachen des Jungen immer noch in ihrem Kopf hören, die eisige Kälte auf ihren Wangen spüren. Die Kleidung war damals noch notdürftig gewesen. Dicke, gefütterte Winterschuhe mit dichter Sohle? Daunenjacken mit Kapuze und Kragen – all das hatte es noch nicht gegeben. Man zog Schicht für Schicht über, nahm her, was man zur Verfügung hatte. Und auch wenn es viele Schichten gewesen waren, so hatte man doch immer gefroren, die Füße stets feucht und klamm. Aber sie waren glücklich gewesen, sie und ihr Ferdinand, wenn sie auch nicht viel hatten. Mit ihrer kleinen Familie. Der Wunsch nach einer Großfamilie wie der, in der sie aufgewachsen war, hatte sich leider nicht erfüllen wollen. Sie hatten jung geheiratet und so viele Jahre hatten sie und Ferdinand auf Nachwuchs gehofft, bis sie dann endlich, mit knapp 30 Jahren erst, schwanger geworden war. Doch sie hatte nach der Geburt des Jungen viel Blut verloren und die Hebamme tat ihr Bestes, um sie gut versorgt und sicher zu wissen. Bis der Arzt dann ins Haus gekommen war, die Kinder wurden ja damals noch meist zu Haus geboren, war es schon zu spät gewesen. Sie würde keine weiteren Kinder mehr bekommen können. Aber sie und ihr Ferdinand hatten das Beste daraus gemacht, der gemeinsame Sohn war ihr Augenstern, sie hatten jede Minute mit ihm genossen und das Schicksal nie angezweifelt. “Es kommt, wie es kommen mag”, hatte schon ihre Großmutter immer gesagt und nach diesem Motto lebte auch Anna. Sie haderte nicht mit dem, was geschehen war, sie war dankbar für den Sohn, den sie hatte und den Mann, den sie so sehr verehrte und liebte. Es war nicht selbstverständlich in der damaligen Zeit, dass man sich liebte und gleichermaßen respektierte in einer Ehe. Viele Bindungen waren seinerzeit aus Vernunftgründen eingegangen worden, wenn wirklich Liebe im Spiel war, war das ein Segen.
Ihr Ferdinand war ein guter Mann gewesen. Stets fleißig und in Sorge um seine kleine Familie, immer fröhlich und auch im Dorf beliebt, weil er ein geschickter Mann war, der immer dort anpackte, wo Not war. Vor 7 Monaten hatte er sie verlassen, eines Abends war er ins Bett gegangen, hatte ihr noch wie immer ein Busserl auf die Wange gedrückt und ihr gesagt, dass er sie so lieb hatte. Am Morgen war er nicht mehr aufgewacht. Sie hatte es beim Aufwachen sofort gewusst. Sie hatte nach seiner Hand gegriffen und sie war noch lau gewesen. Und dann hatten sie so da gelegen und sie hatte sich so sehr gewünscht, dass sie ihm augenblicklich nachfolgen könnte. Sie hatte ihre Augen geschlossen und gehofft und gebetet, wie sie es seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte. “Herrgott, lass mich gehen. Lass mich einschlafen bei ihm”, hatte sie gefleht, aber nichts war passiert. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch geatmet hatte, war sie langsam aufgestanden und hatte ihren Sohn und die Schwiegertochter angerufen. Von diesem Tag an war sie allein gewesen. Und auch jetzt haderte sie nicht, auch wenn sie manchmal traurig war. “Es kommt, wie es kommen mag.” Welches Glück sie doch gehabt hatte, dachte Anna bei sich und stellte die Fotografie wieder zu den anderen Erinnerungen auf das Schränkchen aus Nussholz. Danach ging sie ins Bad und wusch ihre zarte, ledrige Haut mit Kernseife und einem Waschlappen, wie sie es seit Jahr und Tag gemacht hatte. Dieser Geruch, sie kannte ihn in- und auswendig, auch wenn ihre Nase und der dazugehörige Sinn sie in den Jahren immer mehr verlassen hatten, der Duft von Seife war eingebrannt in ihrem Kopf.
Heute würde ein guter Tag werden. Es gab gute Tage, und es gab nicht ganz so gute Tage. An denen war die Melancholie ihr Gast. Aber sie hatte gelernt, damit umzugehen, sie lebte damit und es war in Ordnung so.
Das einzige, was ihr täglich fehlte, so wirklich fehlte, war ihre kleine Familie, die mittlerweile zu einer größeren herangewachsen war. Ihr Sohn hatte ihr und Ferdinand immer nahe gestanden, mit 20 war er damals ausgezogen, um in der Stadt zu studieren. Wiedergekehrt war er nach 6 Jahren, mit einer lieben Frau an seiner Seite, die er einige Jahre danach geheiratet hatte. Zusammen hatten sie 2 Kinder bekommen, der ältere Sohn war nun selbst gerade Vater geworden. Der Lauf der Zeit. Anna liebte ihre Familie, ihre Kinder – ihre Schwiegertochter war für sie wie eine eigene Tochter geworden – und ihre Enkelkinder. Nur den kleinen Urenkel, der gerade mal 3 Wochen alt war, den kannte sie noch nicht. Aber sie war sich sicher, dass sie auch ihn sofort in ihr Herz schließen würde. Sie wusste um ihre Lieben, aber so sehr sie sich auch nach ihnen sehnte: sie wollte ihnen nicht zur Last fallen, sie ihr Leben leben lassen, ohne sich aufzudrängen oder ihnen Mühe zu machen. Nun doch etwas wehmütig geworden, bürstete Anna ihr fein gewordenes, graues Haar und zog sich an. Umständlich war es geworden, die Beweglichkeit, mit der haperte es. Aber mit 90 war das wohl in Ordnung so. “Es kommt, wie es kommen mag,” dachte sie so bei sich, während sie in ihre weichen Hausschuhe schlüpfte. Welcher Tag war heute überhaupt? Sie hatte den Überblick verloren. Sie hatte sich angewöhnt, morgens in ihren Abreißkalender in der Küche zu schauen um den Wochentag zu bestimmen. Doch vergaß sie einmal, ein Papierblatt abzureißen, kam sie schon mal durcheinander und wusste nicht mehr, welcher Tag nun stimmte. Doch ehrlich gesagt war es ihr nicht mehr wichtig. Ob nun Mittwoch war oder Samstag, – für sie zählte jeder Tag gleich. Nur den besonderen Tagen, denen, an denen Johannes mit seiner Frau oder die Enkelkinder sich ankündigten, fieberte sie entgegen und die strich sie ausnahmslos auch im Kalender mit rotem Kugelschreiber an. Mit ihrer Freundin Gertrude traf sie sich regelmäßig, mindestens einmal die Woche zum “Mensch ärgere dich nicht” oder Karten spielen, aber das waren der Sonntag und dann noch ein anderer Tag, sie wohnten ja Tür an Tür, da war das schnell ausgemacht ohne großes Gerede.
In der Küche angekommen setzte sie zuerst Wasser für ihren Melissentee auf, bevor sie am Kalender das nächste Blatt abriss. 17. Dezember. Ach herrje. Nicht mehr lange, und Weihnachten war da. Sie tat hart daran, nicht länger darüber nachzudenken, dass es ihr erstes Weihnachten ohne ihren geliebten Ferdinand war. Sie wusste das alles. Sie hatte es überlebt. Sie hatte ihren 90. Geburtstag ohne ihn überlebt. Sie hatte seinen 98. Geburtstag ohne ihn gefeiert und es überlebt. Sie hatte ihn überlebt. Sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken, der Wasserkessel pfiff nach ihr und der Teebeutel in ihrer Hand erinnerte sie daran, was sie machen wollte. Sie konzentrierte sich. Wie würde Weihnachten werden? Als die Enkelkinder noch klein gewesen waren, hatten sie und Ferdinand die Feiertage bei der Familie verbracht, seit ein paar Jahren nun waren sie dazu übergegangen, den Heiligen Abend zu Zweit zu verbringen. Das war stressfreier, Ferdinand war nicht mehr so gut bei Fuß und hören wollten sie beide nicht mehr so richtig. Heiliger Abend hieß für sie ab dann Bescherung um 5, eine kleine Jause. Sie lasen noch die Weihnachtsgeschichte und gingen früh zu Bett. Niemals, ohne sich eine ‘Gute Nacht’ gewunschen zu haben. Es waren wunderbare Jahre gewesen. ALLE waren sie das. Doch wie nur würde dieses Weihnachten werden?…
Es vergingen die Tage, der 24. Dezember war da. Ihre Morgenroutine geschah wie immer und den Kalender musste Anna dieses Mal nicht umblättern. Sie wusste, dass Heilig Abend war. Sie sagte sich seit Tagen, dass “es kommt, wie es kommen mag”, dennoch war sie etwas traurig, weil sie seit 4 Tagen nichts von ihrer Familie gehört hatte. Als sie ihr Gesicht mit Seife gewaschen und ihr Haar gebürstet, ihr Gewand angezogen und ihren Tee getrunken hatte, klingelte es plötzlich. Nicht das Telefon, die Haustür war es, doch bevor sie sich noch auf den Weg zum Öffnen machen konnte, hörte sie schon den Schlüssel sich im Schloss umdrehen. Johannes!! Und Barbara! Was für eine Freude!! Sie schlossen Anna in ihre Arme und sagten ihr, dass sie eine Überraschung für sie hatten. Daraufhin packte ihre Schwiegertochter Barbara alles in einen Koffer, was sie benötigte, wenn sie ein paar Tage außer Haus war. Sie packten auch ihre Geschenke für alle und das Weihnachtsbuch mit Annas und Ferdinands Lieblingsgeschichten ein und danach fuhren sie zum Haus ihres Sohnes, das nur 20 Minuten von Annas Wohnung entfernt lag. Als Anna dort ankam und das Wohnzimmer betrat, staunte sie nicht wenig und Tränen kullerten ihr über die Wangen. ALLE waren gekommen! Alle waren sie da, ihre ganze Familie war versammelt um den schön geschmückten Baum, ihre Enkeltochter mit ihrem Freund und ihr Enkelsohn mit seiner Frau und dem kleinen Buben, den sie nun endlich kennenlernen sollte. Als sie sich nach Aufforderung ihres Sohnes in den bequemen Lehnstuhl setzte, legte ihr Enkelsohn ihr das kleine Bündel mit dem schlafenden Kind in die Arme und sagte mit sanfter Stimme zu ihr: “Oma, schau! Ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist unser kleiner Ferdinand!” Anna traute ihren Ohren nicht. Gerührt und eingehüllt in all die Liebe ihrer Familie brachte sie leise flüsternd nur ein paar Worte über die Lippen: “Wie eure Ururgroßmutter schon sagte: Es kommt, wie es kommen mag.”
Geschichte von Nora@seelensachen

PS: Diese Geschichte habe ich 2019 aus dem Bauch heraus geschrieben für den Adventkalender und euch heute nochmals eingestellt. Weil sie so aktuell ist und so rührend, jedes Mal wenn ich dran denken muss, wie viele ältere Menschen in diesem Jahr wieder nicht dieses Glück der Liebe und Verbundenheit ihrer Familien verspüren dürfen.
Liebe Nora,
so eine schöne Geschichte, perfekt für die Weihnachtszeit 🙂
Liebe Grüße und vor allem Gesundheit für Dich und Deine Familie.
Danke!🥰
Liebe Nora, vielen lieben Dank für diese Geschichte. Die hat mir 2019 schon so gefallen.
Alles Liebe für dich und deine Familie
Liebe Grüße Petra
❤️
Liebe Nora,
und hätte deine schöne Geschichte als Buch in den Handel gefunden, dann hätte ich es mir gekauft.
Danke. Gäsehaut pur.
Liebe Grüße
Laura T.
❤️Das freut mich sehr! Danke! GLG
Wie so eine Geschichte mit den Veränderungen des Lebens für einen selbst auch eine andere Bedeutung gewinnt… so schön, schnief….
❤️❤️❤️
Liebe Nora, eine wunderschöne,berührende Geschichte, vielen lieben Dank dafür, ich hab Tränen geweint! Auch wir haben erst kürzlich
einen Todesfall in der Familie gehabt und unser Weihnachtsfest wird auch ganz anders sein dieses Jahr. Es wird einem in so einer Zeit
wieder bewusst, daß es nicht selbstverständlich ist, wenn alle gesund und beieinander sind, man sollte es also sehr schätzen und dankbar
für gemeinsame Zeit sein.Ich wünsche Dir und Deinen Lieben noch eine schöne Adventszeit und noch mal herzlichen Dank für diesen an-
rührenden Beitrag. Liebe Grüße Kornelia
Das tut mir sehr leid! Und stimmt, da hast du Recht. Ich habe in diesem Jahr auch meine ganz persönlichen “Verluste” zu verdauen, auch wenn sie anders sind, als deine. GLG
Liebe Nora,
und genau wie 2019 berührt sie sehr <3 …
So feine Worte hast du gefunden. Ich kann Anna förmlich sehen, in ihrer Wohnung, in ihrem alltäglichen Tun und den Duft der Kernseife, oh, den kenne ich auch.
Hab Dank für diesen Geschichtenschatz.
Herzensgruß
von
Anke
❤️
Das ist eine Erinnerung aus meiner eigenen Kindheit. Die hat sich da hineingeschummelt 😉
Liebe Nora, ich kannte diese Geschichte schon, aber ich kann sie immer wieder lesen, weil sie mein Herz jedes Mal aufs Neue berührt. Danke dafür!
Alles Liebe Claudia
❤️ Danke dir!
..und wie jedes Mal beim Lesen kullert eine Träne über meine Wange zum Ende der Geschichte. Wirklich rührend und immer wieder schön.
LG Edith
Ohhh du kennst sie ja schon! Danke!
Liebe Nora, vielen Dank für deine schöne Geschichte. Ich hab sie schon 2019 gelesen und schon da hat sie mich berührt und heute wieder.
Alles Gute für dich und deine Familie und bleibt gesund
Liebe Grüße aus Hessen
Brita
Danke dir, Brita!! 🙂
ach Nora, jetzt sind meine Augen mit Tränen gefüllt ob dieser schönen Geschichte. Würden doch alle so gut ausgehen. Aber: es kommt, wie es kommen mag.
Ganz liebe Grüße aus dem viel zu warmen Westerwald
Dorothe
So ist es, Dorothe!! Ganz liebe Grüße!